Als Anthropozän wird die jüngste Epoche der Klima- und Erdgeschichte bezeichnet. Ihren Namen trägt sie, weil ihr der Mensch seinen Stempel aufgedrückt hat. Wir verändern unsere natürliche Umwelt massiv, vom Boden bis hoch hinauf in die Atmosphäre. Was bedeutet für Sie in diesem Zusammenhang „radikales Denken“?
Baumgarten:
Radikal kommt vom lateinischen Wort radix, Wurzel. Zu der müssen wir zurück. Kritisch denken, wild und offen, Normen und Denkweisen, die sich fixiert haben, bewusst unterlaufen und überarbeiten. Es bedeutet auch, komplex zu denken, Wissenschaft, Empathie und Emotionen einzubeziehen, statt zu polarisieren. Denn die Wirklichkeit ist vielfältig.
Kogler:
Wir sehen zum Beispiel, wo das hinführt, wenn wir die Natur nur als Ressource für unsere Zwecke betrachten. Radikal denken bedeutet zu schauen, welche Vorstellungen es sonst noch gibt. Wo kann man an andere Traditionen anknüpfen, an leisere Stimmen? Die Uni Graz ist ein idealer Ort, um viele unterschiedliche Perspektiven einzubringen. Genau das wollen wir: gemeinsam mit Kolleg:innen verschiedener Fachrichtungen der Geistes- und Kulturwissenschaften Alternativen in Theorie und Praxis anstoßen.
Was könnte das konkret in der Musikwissenschaft bedeuten?
Kogler:
Um an einen Gedanken der Kritischen Theorie der Frankfurter Schule anzuknüpfen: Die Kulturindustrie ist daran interessiert, standardisierte Produkte auf den Markt zu bringen, die sich gut verkaufen, zugeschnitten auf den vermeintlichen Geschmack des Publikums. Wirklich Neues wird nicht zugelassen. Der Fokus liegt auf Konsum und oberflächlicher Unterhaltung, statt die Leute zum kritischen Nachdenken über aktuelle Probleme anzuregen. Die Frage ist, wie lassen sich Auswege aus diesem System der Profitorientierung finden? Wie kann Kunst dazu beitragen, gesamtgesellschaftlich aus diesem Gefängnis herauszukommen?
Gibt es in dieser Hinsicht Vorbilder?
Kogler:
Zu Beginn des 20. Jahrhunderts hat die Wiener Schule um Arnold Schönberg mit ihrer neuen Musik die Tonalität aufgelöst und die traditionellen Hörgewohnheiten ausgehebelt. Sie war schwer konsumierbar und widersetzte sich damit den Vermarktungsstrategien. Allerdings geriet sie dadurch in eine Außenseiterposition. Wie kann Kunst aussehen, die Gegenstrategien zum genormten Konsum entwickelt, ohne dabei zu elitär zu werden? Darauf gilt es eine Antwort zu finden.
Herr Baumgarten, inwiefern beeinflussen Ideologien und Denkmuster das Übersetzen von einer Sprache in eine andere?
Baumgarten:
Translation ist immer in einen gesellschaftspolitischen, ideologischen Kontext eingebunden. Beim Übersetzen von Literatur geht es zum Beispiel häufig um Inklusion oder Exklusion. So wird etwa in den USA in der Regel sehr viel, was von außen reinkommt, an die nordamerikanische Zielkultur angepasst und das Fremde herausgefiltert. Beispielsweise das, was ein österreichisches „Häferl“ ausmacht. Das hat mit kultureller Macht – manche sagen auch „soft power“ zu tun, ebenso wie mit dem Wirtschaftsmodell. Was liest die Zielgruppe gern? Was bringt Geld? Wir in Europa hingegen nehmen alles unkritisch rein, was von den USA kommt. Besonders deutlich zeigt sich das in Filmen und TV-Serien.
Welche Folgen können derart „gefärbte“ Übersetzungen haben?
Baumgarten:
Vor allem wenn es um Ideologien geht, können die Auswirkungen weitreichend sein. In den 1950er- und 1960er-Jahren wurde das Gesamtwerk Sigmund Freuds ins Englische übersetzt. Und zwar so, dass es ins damalige positivistische Denkschema der Psychologie im englischsprachigen Raum passte. Das heißt, äußerst wissenschaftlich und wenig gesellschaftsbezogen. Freuds im Deutschen eher umgangssprachliche Ausdrucksweise ging dabei verloren, und Generationen englischsprachiger Psycholog:innen wurden auf Basis einer verwissenschaftlichten Übersetzung geschult. Heute, auch nach dem Ablauf des Urheberrechts, hat man das in neuen Übersetzungen geradegerückt.
In immer mehr Lebensbereichen übernehmen mittlerweile digitale Technologien das Ruder, scheint es. Was bedeutet in diesem Kontext kritisches Denken?
Baumgarten:
Ein Grundproblem ist, dass die Entwicklung bzw. Implementierung der digitalen Technologien in der Gesellschaft völlig undemokratisch abläuft. Und die meisten von uns merken es nicht. Besser ausgedrückt: Die Verwirklichung mancher utopischer Träume, wie das Überkommen der Babylonischen Sprachverwirrung durch „perfekte“ Übersetzungsmaschinen, läuft quasi hinter unserem Rücken ab. Auch an der Universität, in der Lehre, müssen wir neue Technologien implementieren. Zumindest kann ich mit den Studierenden darüber diskutieren. Aber niemand wird gefragt, ob er oder sie zum Beispiel KI verwenden will. Ist das demokratisch legitimiert? Ist es nicht. Trotzdem gibt es keine Kritik daran.
Kogler:
Hinzu kommt, dass die neuen Technologien sehr ausgrenzend sind. Zum einen haben viele keinen Zugang, etwa weil sie es sich nicht leisten können oder keine Hilfestellung bekommen. Zum anderen wird alles in die digitalisierbaren Schemata gepresst. Was nicht im Netz ist, wird nicht mehr wahrgenommen.
Wie sollen wir damit umgehen, dass auch die Entscheidungen von KI von Ideologien beeinflusst sind?
Baumgarten:
Wir brauchen eine neue Art der Alphabetisierung, eine Art „Critical AI Literacy“ – die Fähigkeiten, KI kritisch zu nutzen. Das steht seit dem Siegeszug von ChatGPT ganz oben auf der Agenda der Wissenschaften und auch der Politik. Bei der maschinellen Übersetzung sprechen wir von der Notwendigkeit einer allgemeinen „Machine Translation Literacy“. Das heißt: Wie gehen wir mit dem KI-generierten Material um? Welche potenziellen Risiken ergeben sich durch die maschinelle Übersetzung? Noch werden gesellschaftliche Werthaltungen von der Maschine unkritisch ausgespuckt. Beispielsweise reproduzieren die meisten Systeme stereotype Rollenbilder. Bei typischen Berufsbezeichnungen für Frauen und Männer wird dann oft aus einer „nurse“ eine „Krankenschwester“, auch wenn es sich im englischen Original um einen Mann handelt.
Das Projekt „Radikales Denken im Anthropozän“ ist Teil eines Schwerpunktbereichs der Forschung an der Geisteswissenschaftlichen Fakultät der Uni Graz zum Thema Wahrnehmung. Wo liegt hier die Verbindung zum radikalen Denken?
Kogler:
Wir suchen Antworten auf die Frage, wie gruppenspezifische Denkmuster und Ideologien unsere Wahrnehmung prägen. Und wie unsere Wahrnehmung ein kritisches Denken befördern oder auch verhindern kann. Wir glauben, dass die Kunst eine wichtige Rolle dabei spielen kann, neue Wahrnehmungsweisen zu etablieren, auf dem Weg zu einer Transformation der Kultur und unseres Menschenbildes.
Welche Rolle sehen Sie für sich und die Universität mit Blick auf die Förderung kritischen Denkens und Handelns in der Gesellschaft?
Kogler:
Der erste Schritt ist die Selbstreflexion. Wenn wir uns an der Universität nur an kapitalistischen Prinzipien und Wettbewerbs-Denken orientieren, dann werden das auch die Studierenden so weitertragen. Wenn wir es aber schaffen, eine kritische Praxis zu leben, ist das ein großer Beitrag.