„Was, außer bald nicht mehr im Parlament, ist Liberalismus?, twitterte Jan Böhmermann Mitte 2020. Die liberale Idee wurde oft für tot erklärt. Manche sagen, sie sei zu individualistisch, zu radikal marktfreundlich, andere, dass sie sich totgesiegt habe“, so Julian Müller. „Der Wettbewerb der Ideologien tritt in eine neue Runde ein. Der kommunistische Autoritarismus nach chinesischem Vorbild rüstet technologisch auf, und der nationale Populismus gewinnt an Boden. Die Frage, wofür liberale Kosmopoliten und Kosmopolitinnen stehen, ist mit Nachdruck zurückgekehrt“, beschreibt der Philosoph die aktuellen Entwicklungen.
Sind Sie liberal? Wenn Müller seinen Studierenden diese Frage stellt, bekommt er selten eine klare Antwort: Ich weiß nicht … eher nicht … ja, doch … Ob es daran liegt, dass viele gar nicht wissen, was es bedeutet? Selbst in der Wissenschaft gibt es kaum Arbeiten zu dieser Frage. Ein Grund mehr, warum der Professor für Politische Philosophie die Auseinandersetzung mit den Grundprinzipien liberaler Denkmuster und Gedankenstrukturen zu einem Schwerpunktthema seiner Forschung gemacht hat.
Komplex statt einfach
Die liberale Grundidee, so Müller, lasse sich gut im Kontrast zu Populismus und Nationalismus bestimmen. „Im Kern kann der Populismus auf folgende Formel gebracht werden: Eigentlich ist alles ganz einfach, man muss es nur tun! Wenn aber alles so einfach ist, warum wird es dann nicht getan? Na, weil die Eliten Böses im Schilde führen.“ Wenn uns nicht bewusst ist, wie der Populismus tickt, könnten wir meinen, er ließe sich mit einer liberalen Demokratie in Einklang bringen. Aber das sei falsch, warnt der Philosoph.
„Denn die liberale Demokratie basiert auf der Einsicht, dass die meisten gesellschaftlichen Probleme komplex sind. Und dass unser Verstand in vielen Fällen nicht scharf genug ist, um im Vorhinein zu wissen, was angesichts großer Herausforderungen, wie zum Beispiel Corona, Migration oder KI, am besten getan werden sollte.“ Das gelte umso mehr in einer globalisierten, verflochtenen Welt. „Daher ist es so schwierig, sich im Politischen zu einigen. In einer liberalen Demokratie gehört der Streit dazu. Ein Wesenskern des Liberalismus ist deshalb auch, dass er vernünftige Meinungsunterschiede anerkennt“, sagt Müller.
Wahrheit statt Wunschdenken
Eine tragende Säule des Liberalismus ist das Streben nach Wahrheit, im Gegensatz zu unrealistischem Wunschdenken. „Es geht darum, das zu tun, was Vernunft und Moral gebieten, nicht das, was uns ein gutes Gefühl gibt, was populär ist“, betont der Forscher und nennt ein Beispiel: „Angesichts der aktuellen politischen Entwicklungen eine Modernisierung des Militärs abzulehnen, im Wunschdenken, sich aus allem raushalten zu können, würde langfristig nicht den Frieden sichern, sondern autoritäre Regime ermutigen, ihren Einflussbereich auszuweiten.“
Gleichheit und Menschenwürde
Eine zweite Säule des Liberalismus ist der Universalismus, die gleiche Würde aller Menschen. „Deshalb sind Liberalismus und Nationalismus nicht miteinander vereinbar. Denn Letzterer überhöht die Angehörigen der eigenen Nation und wertet die anderen ab“, erklärt Müller. Was es mit der Gleichheit aller Menschen auf sich hat, beschreibt der gebürtige Deutsche, der auch viele Jahre in China geforscht und gelebt hat, mit einer Computer-Analogie: „Auf allen von uns wurden als Kind verschiedene Programme installiert: Ein Sprachprogramm, ein Rechtsschreibprogramm, eines zum Lösen mathematischer Aufgaben, eines mit politischen Denkmustern und andere mehr. Diese Programme machen unsere Unterschiede aus. Im Grunde aber sind wir alle die gleichen.“ Einige von uns hätten dazu das Glück gehabt, in Deutschland oder Österreich geboren zu sein. Andere das Pech, dass in ihrer Heimat Krieg, Hunger und Naturkatastrophen das Leben sehr schwer machen. „Diese Grundwahrheit im Denken und Fühlen präsent zu halten, ist eine wesentliche Eigenschaft einer liberalen Haltung“, so Julian Müller.