Das Vorlesungsverzeichnis ist ein dickes, gedrucktes Buch. Barbara Levc, eine blinde Pädagogik-Studentin an der Uni Graz, bittet einen Freund um Hilfe beim Zusammenstellen ihrer Lehrveranstaltungen für das erste Semester. Das war 1989. Heute würde sie das bequem online erledigen können. Wie auch viele andere Dinge für Studierende mit Behinderung wesentlich einfacher geworden sind. Dass das so ist, dazu hat Levc entscheidend beigetragen.
1994 schuf das Wissenschaftsministerium unter Erhard Busek für die Universitäten Wien, Graz, Innsbruck, Salzburg und Klagenfurt jeweils eine Planstelle für eine:n Behindertenbeauftragten. Die ÖH, die seit Ende der 80er-Jahre über ihre Behindertenreferate österreichweit gut vernetzt war, und einige weitere engagierte Personen hatten zuvor Überzeugungsarbeit geleistet. Zu ihnen zählte auch Barbara Levc. Als sie dann die erste Behindertenbeauftragte an der Uni Graz wurde, lag eine Mammut-Aufgabe vor ihr. Denn bis dahin gab es – bis auf eine Person in der Universitätsbibliothek, die Bücher gescannt und digital lesbar gemacht hat – keine Unterstützung für Studierende mit Beeinträchtigungen von Seiten der Hochschule.
Einzelkämpfer:innen
Wer es bis in die 1990er-Jahre-wagte, mit Behinderung zu studieren, musste sich mehr oder weniger alleine durchkämpfen. Barbara Levc war eine dieser Pionier:innen, von denen es nicht viele gab. „Damals war das Institut für Erziehungswissenschaft noch in der Hans-Sachs-Gasse beheimatet. Mit Blindenhund bin ich ins Sekretariat marschiert und habe mir Informationen geholt, wo ich welche Räume finde“, erzählt sie. In den Lehrveranstaltungen saß sie dann mit einem „technisch vorsintflutlichen Gerät“, wie sie es heute bezeichnet, mit dem sie Notizen machen konnte. Teilweise hatte sie auch ein Aufnahmegerät dabei. Studienliteratur machte sich Barbara Levc zugänglich, indem sie die Bücher zum Verein blinder Studierender nach Deutschland schickte, wo diese auf Kassetten gelesen wurden. „Bis ich diese bekam und abgehört hatte, verging einige Zeit, so dass ich für Präsentationen oder Prüfungen immer einen relativ späten Termin ausmachen musste.“
Eine besondere Herausforderung war Statistik: „Ein guter Freund ist in die Vorlesungen mitgegangen, hat mitgeschrieben und mir nachher die Grafiken erklärt“, so Levc. In diesem Fach konnte sie – anders als bei den meisten Lehrveranstaltungen – keine mündliche Prüfung absolvieren. „Mit einer Blindenschrift- und einer gewöhnlichen Koffer-Schreibmaschine saß ich bei Professor Rossmann im Büro. Er hat mir die Fragen angesagt. Ich hab sie in Braille-Schrift mitgeschrieben, die Berechnungen gemacht und dann die Ergebnisse mit der Koffer-Schreibmaschine übertragen. Prof. Rossmann ist zwischendurch mit meinem Hund Gassi gegangen, denn das hat doch etwas länger gedauert“, schildert Levc.
Integriert studieren
Heute stellt das Zentrum Integriert Studieren (ZIS) bei Bedarf eine Mitschreib-Assistenz zur Verfügung. Diese wird vor allem von Personen mit Schwerhörigkeit oder mit eingeschränkter Handbeweglichkeit benötigt. Bei Klausuren gibt es mittlerweile umfassende Unterstützung. „Wenn Studierende aufgrund einer Behinderung zum Beispiel mehr Zeit für Prüfungen brauchen, können sie diese bei uns machen. Wir stellen die Aufsicht“, berichtet Levc. Das gilt auch für Personen mit diagnostizierter Neurodivergenz, wie etwa ADHS oder Lese-Rechtschreibschwäche. Sie haben häufig Schwierigkeiten, sich zu konzentrieren, und benötigen daher ein störungsfreies Umfeld. Sowie für Personen, die nicht selbst schreiben können. Sie diktieren ihre Antworten Mitarbeiter:innen des ZIS, die diese dann verschriftlichen. Manchmal müssen Fragen und Aufgabenstellungen auch barrierefrei adaptiert werden. Pro Jahr führt das ZIS rund 300 Prüfungen durch. Das unterstützt auch die Lehrenden.
Barrieren beseitigen
„Ich hab bei uns noch nie einen Rollstuhlfahrer gesehen“, erinnert sich Levc erheitert an das Argument eines Gegner ihrer ersten Anstrengungen als Behindertenbeauftragte, den Campus barrierefrei zu gestalten. „Kein Wunder, wenn man mit Rollstuhl kaum wohin kam. Die alten Gebäude waren für körperlich behinderte Personen teilweise total unzugänglich. Im Hauptgebäude gab es einen Lift, aber selbst damit gelangte man nicht in alle Bereiche.“
Kaum zu glauben, aber am Anfang gab es viel Widerstand gegen Vorhaben der barrierefreien Umgestaltung. „Eine der ersten Maßnahmen war, vor dem Hauptgebäude einen Streifen zu asphaltieren, damit Rollstuhlfahrer:innen zum Haupteingang gelangen konnten und nicht am Kopfsteinpflaster scheiterten“, berichtet Levc. Über die Stufen mussten sie dann allerdings getragen werden.
1996 dann eine Revolution: Die Bundesimmobiliengesellschaft, Eigentümerin der Uni-Gebäude, startet gemeinsam mit der Universität Graz eine Barrrierefreiheitsinitiative. „Ein Architekt bekam den Auftrag zu sondieren, welche baulichen Maßnahmen wo gesetzt werden könnten“, erinnert sich Levc. Damals wurde dann unter anderem die Rampe vor dem ehemaligen Hörsaal-Trakt in der Vorklinik angelegt und der Lift im Hof des Gebäudes Universitätsplatz 6 angebaut. Bei der Planung des RESOWI-Zentrums hat man Barrierefreiheit bereits mitgedacht. „Im Wall-Gebäude wurden abenteuerliche Treppenlifte für die Zwischengeschoße eingebaut“, erzählt die damalige Behindertenbeauftragte. Mit dem Bundes-Behindertengleichstellungsgesetz von 2006 wurde es dann Vorschrift, bei allen Neu- und Umbauten auf Barrierefreiheit zu achten. „Das war ein Quantensprung. Von da an musste ich nicht mehr diskutieren“, freut sich Levc. Ganz so selbstverständlich scheint das allerdings doch nicht für alle zu sein, wie die Lösung vor dem Haupteingang des 2019 eröffneten Neubaus der Universitätsbibliothek zeigt.
Nachdem alle Zugänge barrierefrei gestaltet wurden, galt es weitere Herausforderungen in Angriff zu nehmen. So etwa, dass in den Hörsälen Studierende im Rollstuhl, die in den fix montierten oder aufgestellten Reihe keinen Platz haben, auch ganz vorne oder hinten einen Tisch zum Schreiben vorfinden. Für blinde und sehbehinderte Personen folgten Bodenleitsysteme. „Aktuelle Vorhaben sind, die Stufen in den Hörsälen durch Markierungen gut sichtbar zu machen und einen Handlauf an der Wand anzubringen“, berichtet Levc.
Eine weitere große Aufgabe ist die digitale Barrierefreiheit. Damit sie gut umgesetzt werden kann, sei es wichtig, dass Betroffene bereits bei der Erstellung von Websites mit an Bord sind, betont die Leiterin des ZIS. An der Uni Graz ist das ihr langjähriger Kollege Jakob Putz. Er hat den jüngsten Webrelaunch der Universität begleitet.
Mit den Aufgaben wachsen
Ihr erstes eigenes Büro als Behindertenbeauftragte bekam Barbara Levc im Keller des Uni-Hauptgebäudes. 2007 bekam sie mit Jakob Putz erstmals einen Mitstreiter. Heute besteht das ZIS aus insgesamt acht Personen und findet sich im ersten Stock des Gebäude-Ensembles der Universitätsbibliothek. Mitgewachsen ist das Aufgabenfeld. „Als ich mit meiner Tätigkeit hier angefangen habe, gab es zwei blinde Studierende an der Universität, derzeit sind es etwa 15. Insgesamt betreuen wir rund 100 Personen. Das reicht von einmaligen Beratungen bis hin zu einer umfassenden Begleitung durchs Studium“, erklärt Levc. Verschoben habe sich auch das Spektrum der Beeinträchtigungen. „In den ersten zwanzig Jahren bildeten Studierende mit Bewegungsbehinderung, Sehbehinderung und Blindheit die größten Gruppen. Nun sind es jene mit Neurodivergenz und psychischen Erkrankungen.“ Seit zwei Jahren bietet das ZIS auch Beratung speziell bei psychischen Belastungen an.
Das „Hauptgeschäft“, wie Barbara Levc sagt, ist neben der Abwicklung von Prüfungen das Adaptieren von Literatur. Lehr- und Lernunterlagen werden gescannt bzw. digitale Dateien so aufbereitet, dass sie am Computer entweder zwecks besserer Lesbarkeit vergrößert werden können, über ein Zusatzgerät in Blindenschrift übertragen oder vorgelesen werden.
Auch zusätzliche studentische Mitarbeiter:innen beschäftigt das ZIS, etwa als Assistenz für Mitschriften oder zum Korrekturlesen gescannter Studienliteratur. Und schließlich übernimmt die KI noch einen wichtigen Job. „Sie hilft uns beim Beschreiben von Fotos und Grafiken. Das stellt angesichts der zunehmenden Bedeutung von Bildern sowie im Zusammenhang mit der digitalen Barrierefreiheit eine große Aufgabe dar“, weiß Barbara Levc.