Frau Stelzl-Marx, das neue Jahr hat in Österreich mit einer Regierungskrise begonnen. Politik und Gesellschaft stehen vor großen Herausforderungen und müssen tragfähige Lösungen für die Zukunft erarbeiten. Inwiefern kann der Blick in die Geschichte dabei helfen?
Stelzl-Marx: Im 20. Jahrhundert erlebten wir in Österreich gleich mehrere Zeitenwenden – 1918 mit dem Ende des Ersten Weltkrieges und dem Zerfall der Monarchie, 1938 mit dem Anschluss an das nationalsozialistische Deutsche Reich, 1945 das Kriegsende, 1955 noch eine mit dem Staatsvertrag, der „Befreiung von den Befreiern“, 1989 mit dem Fall des Eisernen Vorhanges. Ich halte es für äußerst wichtig, die Erinnerung an diese Zeitenwenden und an das totalitäre System des Nationalsozialismus wachzuhalten. Der Blick zurück kann und soll dazu beitragen, dass wir sensibler und aufmerksamer dafür werden, was sich heute tut, und dass wir daraus auch die richtigen Schlüsse ziehen.
Sie setzen mit Ihrem Team auf Forschung und die lebendige Vermittlung von Wissen mit Hilfe von Veranstaltungen, Ausstellungen und Publikationen. Wie nutzen sie 2025 dafür?
Stelzl-Marx: Jubiläen bieten immer einen guten Anlass, über Veranstaltungen oder Forschungsprojekte die Bewusstseinsbildung zu fördern. Dabei widmen wir uns Themen, die für die Bevölkerung interessant, gesellschaftspolitisch relevant und bislang noch relativ wenig untersucht wurden. Die Ergebnisse unserer Forschungen vermitteln wir auf eine Art und Weise, dass sie nicht nur für ein Fachpublikum, sondern auch einer möglichst großen Öffentlichkeit zugänglich sind. In diesem Jahr haben wir zahlreiche Aktivitäten am Programm. Für den 7. April planen wir an der Universität Graz eine internationale Konferenz zu den „5er-Jahren“, beginnend mit 1945 bis zum EU-Beitritt 1995. Und ab dem 26. April wird die von mir ko-kuratierte Ausstellung „Kinder des Krieges. Aufwachsen zwischen 1938 und 1955“ im Haus der Geschichte in St. Pölten zu sehen sein. Weitere Veranstaltungen folgen.
In Ihrer Forschung richten Sie den Blick immer wieder auf die Schicksale einzelner Menschen. Warum?
Stelzl-Marx: Was mich besonders interessiert, ist, wenn die große Geschichte in die individuelle Biografie, hineinspielt. Denn dabei wird deutlich, wie sehr das persönliche Leben durch die historischen Umstände geprägt wird. Das passiert natürlich in einer Ausnahmesituation wie im Krieg oder im Nationalsozialismus noch viel stärker als in einer friedlichen, glücklichen Zeit, wie wir sie bisher erlebt haben. Wie ein Krieg im Heimatland das Leben auf den Kopf stellt, so dass sich auch im ganz privaten Bereich alles radikal ändert, sehen wir unter anderem bei den Menschen, die aus der Ukraine nach Österreich geflüchtet sind. Aktuell führen wir dazu das Interviewprojekt „Mitgenommen“ durch.
Im Rahmen Ihrer Forschungsprojekte sprechen Sie und Ihr Team immer wieder mit Zeitzeugen und -zeuginnen, die von ihren persönlichen Erlebnissen erzählen. Warum ist Ihnen das so wichtig?
Stelzl-Marx: Jetzt gibt es noch Menschen, die den Krieg, das Kriegsende, die Besatzungszeit miterlebt haben, als Kinder oder Jugendliche. Die wir fragen können, wie das damals war. Ich motiviere auch meine Studierenden, in ihrem Umfeld nachzufragen, solange noch Zeit ist. Nationalsozialismus ist immer Familiengeschichte. Auf die eine oder bzw. eine und andere Weise hat er in Österreich, genauso wie in Deutschland, jeden oder jede betroffen. Oft gibt es in einer Familie sowohl Opfer, Täter oder Täterinnen, Mitläufer oder Mitläuferinnen. All das war lange Zeit von einer Mauer des Schweigens umgeben, weil die Leute diese dunkle Zeit hinter sich lassen und nach vorne schauen wollten. Aber nun sind acht Jahrzehnte vergangen und man merkt, dass das Erlebte immer noch nachwirkt. Zunehmend wollen auch Menschen der zweiten, dritten Generation wissen, was war.
Solche Fragen beantworten Sie durch die Ergebnisse Ihrer Forschung, die Sie der Öffentlichkeit zugänglich machen, wie zum Beispiel in der Ausstellung „Hitlers Exekutive. Die österreichische Polizei und der Nationalsozialismus“, die noch bis 5. März 2025 im Graz Museum zu sehen ist. Anschließend wandert sie heuer noch nach Klagenfurt, ins Salzburg Museum und ins Haus der Geschichte Niederösterreich. Welche Reaktionen erleben Sie darauf?
Stelzl-Marx: Es melden sich immer wieder Leute bei uns, die sagen, mein Vater oder mein Opa, Uropa, die waren bei der Polizei, bei der SS oder der Gestapo. Ich würde einfach gerne wissen, was da los war. Auch wenn das vielleicht durchaus schmerzliche Informationen sind, die sie dann bekommen. Aber: Wenn man etwas nicht weiß, heißt das nicht, dass es nichts mit einem macht.
Ist es für Sie und Ihr Team schwierig, Zeitzeug:innen zu finden, die über ihre Erlebnisse sprechen wollen?
Stelzl-Marx: Nein. Das Bedürfnis, zu reden und die Erinnerung zu teilen, ist da. Am 10. April werden wir in der Buchhandlung Moser meine Publikation „Roter Stern über Graz. 75 Tage sowjetische Besatzung 1945“ präsentieren. Für das Forschungsprojekt haben wir über die Medien Zeitzeugen und -zeuginnen gesucht. Über 70 haben sich gemeldet, viel mehr als wir erwartet hatten. Sie haben uns erzählt, wie sie als Kinder oder Jugendliche das Kriegsende am 8./9. Mai 1945 und die elf Wochen danach, in denen die Rote Armee in Graz präsent war, erlebten. Bis die Briten im Zuge des Zonen-Abkommens die Besatzung übernahmen. Im Buch wird aus dieser Mikroperspektive heraus tageweise rekonstruiert, wie sich der Alltag in dieser kurzen, aber besonders einprägsamen Phase gestaltete. Neben den Interviews wurden dafür hochinteressante Archivdokumente und Tagebuchaufzeichnungen herangezogen.
Und dennoch: Bei allem Interesse, mehr über persönliche Schicksale in der schrecklichen Zeit des Nationalsozialismus und des Krieges zu erfahren, scheinen viele die Parallelen zur Gegenwart nicht zu sehen. Wir erklären Sie sich das?
Stelzl-Marx: Wenn wir den Ruf nach dem starken Mann, ja sogar dem starken „Führer“ vernehmen, dann ist das etwas, wogegen wir bewusst ankämpfen müssen. Menschen, die in einem autoritären System leben, leiden darunter – auch heute. Sie wünschen sich in erster Linie demokratische Verhältnisse. Darum erschüttert es mich persönlich, dass Demokratie und Werte wie Menschenrechte und Meinungsfreiheit von vielen offenbar nicht mehr besonders geschätzt werden und man sogar Einschränkungen in dieser Hinsicht in Kauf nimmt. Ich denke, der Grund dafür liegt in einem Konglomerat an Bedrohungen, die die Menschen heute empfinden – von wirtschaftlichen Problemen über den Klimawandel bis zum Krieg, der wieder greifbar nahe gerückt ist. Corona hat zudem bei manchen zu einer gewissen Radikalisierung geführt. Auch der Blick in die Geschichte zeigt: In einer als bedrohlich empfundenen Lebenssituation springen viele auf scheinbar leichte Lösungen an, aber eben nur scheinbar. Ich befürchte, dass zu wenig reflektiert wird und stattdessen die Emotionen die Oberhand gewonnen haben.
Wo sehen Sie für sich und Ihr Team noch weiteren Handlungsbedarf?
Stelzl-Marx: Ich glaube, dass die neuen Medien eine extrem große Rolle bei der Beeinflussung von Meinungen und Werthaltungen spielen. Gerade wenn gegen Desinformation nicht mehr vorgegangen wird, ist dies ein Schritt in die falsche Richtung. Daher werden auch wir im Bereich der Vermittlung unserer Forschung und der Bewusstseinsbildung einen wesentlichen Beitrag über diese Medien leisten müssen, um das Feld nicht den Populisten und Populistinnen zu überlassen.
Institut für Geschichte der Universität Graz / Zeitgeschichte