Herr Lamprecht, die Generation der Überlebenden des Zweiten Weltkriegs stirbt. Wer kann heute noch davon erzählen?
Gerald Lamprecht: Zunächst gibt es ja sehr viele Video-Interviews, in denen die Betroffenen ihre Erlebnisse berichten. Allein im Visual History Archiv der USC Shoa Foundation befinden sich mehr als 55.000 Interviews. Dann gibt es viele Angehörige – oft schon aus der dritten oder vierten Generation danach –, die ihre Familiengeschichte aufarbeiten und so in der Vermittlungsarbeit tätig werden. Weiters werden jetzt, wo es kaum Zeitzeug:innen mehr gibt, Orte immer wichtiger. Orte des Verbrechens und Orte des Gedenkens. In den Gedenkstätten wie Mauthausen oder Ausschwitz-Birkenau gab es einen massiven Ausbau der Vermittlungsangebote.
Eine Tour durch die Gedenkstätte inklusive Mittagessen: Solche Angebote bringen mehr Besucher:innen, andererseits leidet darunter womöglich auch die Pietät. Wie touristisch darf das Gedenken an den Holocaust sein?
Lamprecht: Gedenkstätten sind immer auch touristische Orte und letztlich ein beträchtlicher Wirtschaftsfaktor. Darüber muss man sich im Klaren sein und ein Auge darauf haben, wer diese Orte besucht und warum. Am Beispiel vom Mauthausen Memorial kann man aber sehen, dass sich die Betreiber:innen der Gedenkstätten dieser Problematik bewusst sind. Die Vermittler:innen, die bestens ausgebildet sind und hochprofessionelle Arbeit leisten, nehmen auf die unterschiedlichen Erwartungen der Besucher:innen Rücksicht.
Ein weiterer Zugang der Vermittlung, gerade an junge Leute, läuft über virtuelle Medien. Avatare oder Hologramme, mit Antworten auf gängige Fragen gefüttert, sollen Geschichte mit Leben erfüllen. Wie stehen Sie zu der Entwicklung, KI-Systeme und Kanäle wie TikTok in der „Holocaust Education“ einzusetzen?
Lamprecht: Einerseits ist es ganz wichtig, die jungen Leute dort zu erreichen, wo sie sind – und das sind eben TikTok, YouTube und ähnliche Plattformen. Andererseits sehe ich dabei die Gefahr, dass Fakt und Fiktion verschwimmen. Dem Holocaust fielen Millionen von Menschen mit ihren jeweiligen Lebensgeschichten zum Opfer. Das Leiden war real. Über Social-Media-Projekte, wie beispielsweise „Ich bin Sophie Scholl“, kann man eine breitere Öffentlichkeit erreichen. Angesichts der „Logik“ der neuen Medien nimmt die Expertise der Vermittler:innen sowie der Lehrpersonen eine umso wichtigere Rolle ein. Es braucht also eine pädagogisch-didaktische Rahmung und in Online-Foren eine Moderation.
Wie sollen wir den Holocaustgedenktag begehen? Wie kann das Gedenken zeitgemäß gestaltet sein?
Lamprecht: Jedenfalls nicht mit leeren Ritualen, die einfach „abgearbeitet“ werden. Für mich persönlich sind zwei Aspekte ganz wichtig: Einerseits den Opfern einen Namen geben und sich so bewusst werden, dass Menschen hinter den Zahlen stecken, persönliche Schicksale. Und andererseits müssen wir uns fragen: Was bedeutet die Erinnerung an den Holocaust für jede:n Einzelne:n und für die Gesellschaft insgesamt? Was fordert sie von uns, was dürfen wir niemals vergessen?
…dass Demokratie fragil ist?
Lamprecht: Genau. Demokratie muss permanent gelebt und verteidigt werden. Wir müssen uns immer ihren Wert vor Augen halten – und den Wert, den Menschenrechte sowie eine liberale, weltoffene Gesellschaft für unser Zusammenleben haben. Wir sehen aktuell, wie rasch Demokratien unter Druck geraten können. Gerade in den politischen Zeiten, in denen wir jetzt leben, ist es umso wichtiger, sich zu vergegenwärtigen, was passiert, wenn wir unsere Demokratie verlieren.
Gibt es eigentlich noch Forschungslücken zu diesem Thema?
Lamprecht: Ich würde hier nicht von einer „Lücke“ sprechen. Um den Historiker Michael Wildt zu paraphrasieren: „Geschichte ist kein Karpfenteich.“ Es ist nicht so, dass irgendwann der letzte Karpfen rausgefischt ist und dann gibt es nichts mehr zu entdecken. Vielmehr hängt historische Forschung immer davon ab, wer wann welche Fragen an die Vergangenheit stellt.