Graz, am 9. November 1938. Gewaltbereit ziehen Nationalsozialisten, Mitglieder der Sturmabteilung (SA) und Schutzstaffel (SS) durch die Stadt. Die Synagoge am Grieskai, das Zentrum der jüdischen Gemeinde in Graz, wird in der Nacht in Brand gesteckt und verwüstet. Der Landesrabbiner und Universitätsprofessor für Semitische Philologie, David Herzog, muss mitansehen, wie sie zerstört wird. Er selbst wird schwer misshandelt.
Ein ähnliches Schicksal widerfährt an diesem Tag auch Trude Lang: Als Adolf Hitlers Anhänger:innen durch die Stadt ziehen, suchen sie auch das Elternhaus der jungen Grazerin auf. Am 9. November 1938, so schreibt sie in ihren bereits im Herbst 1942 niedergeschrieben Erinnerungen, „spürte“ die Familie „die Explosion“. Sie „fühlten das Grauen und sahen, wie die Nazi-Bösewichte in das Haus eindrangen“ und die Macht übernahmen. Das Einzige, was zählte, erinnerte sich Lang, war es „in ein anderes Land zu kommen, in dem Menschen in geistiger Freiheit leben und sterben“ können.
1915 geboren, wächst Trude Lang in einem gut bürgerlichen Haus in Graz auf und besucht nach der Evangelischen Volksschule – sie war das einzige jüdische Kind unter 40 – das Mädchenlyzeum in der Sackstraße. In dieser Zeit kann sie das erste Mal den anwachsenden Antisemitismus im Land am eigenen Leib verspüren. So beschreibt sie klar den Unterschied zwischen dem Leben im Falkenhof am Lazarettgürtel 77 und der Welt draußen: „Es war warm zuhause, aber in dem Moment, als wir es verließen, mussten wir die kühle Atmosphäre der Feindschaft einatmen“.
"Vollkommen isoliert"
Bei ihrer Inskription für das Studium der Geschichte an der Universität Graz ist Trude Lang die einzige jüdische Studierende für ihr Fach. Sie fühlt sich „vollkommen isoliert“. Dennoch findet ihre Arbeit von einigen Dozenten und Mitstudierenden Anerkennung. Das gibt ihr Auftrieb und Hoffnung. „Trude zählte im Sommer 1938 zu den wenigen jüdischen Studierenden, die ihr Studium nach dem ‚Anschluss‘ noch durch eine ‚stille Promotion‘ abschließen konnten. Unterstützt wurde sie dabei von ihrem Doktorvater, dem Historiker Ferdinand Bilger, einem zugleich prononcierten Deutschnationalen und Wegbereiter des Nationalsozialismus an der Universität“, erzählt Gerald Lamprecht, Historiker und Leiter des Centrums für Jüdische Studien an der Uni Graz. „Der damalige Dekan teilte ihr am 23. Juni mit, dass sie ihr Rigorosum bis 15. Juli ablegen müsste, und fügte die Information an, eine spätere Zulassung sei ausgeschlossen. Am 28. Juni bestand Trude ihre Prüfung mit Auszeichnung.“
Bruder Hans Lang gelingt es nach Palästina zu fliehen; Trude, ihre Eltern und Großeltern sehen sich nach Möglichkeiten einer Flucht um. Mit Unterstützung des Pfarrers der Karlau und eines englischen Missionars emigriert Trude Lang Ende 1938, Anfang 1939 nach England, wo sie zunächst als Haushälterin und später als Aushilfslehrerin arbeitet. Ihre Eltern schaffen es nach Palästina, die Großeltern werden nach Wien zwangsübersiedelt. Großvater David wird von den Nationalsozialisten auf der Flucht in Jugoslawien ermordet, seine Frau erliegt einer Krankheit.
Trude Lang macht ihren Weg: Sie bekommt einen Job als Lehrerin nordöstlich von Oxford, nach Kriegsende studiert sie in Oxford weiter und bekommt 1947 ein Visum für Palästina. Sie heiratet den aus Deutschland stammenden Kurt Philippsohn und arbeitet erfolgreich als Lehrerin. „Sie wurde eine Pionierin im israelischen Schulwesen“, weiß der Historiker Dieter A. Binder. Trude Philippsohn-Lang verstirbt 2002 in ihrer Heimat Israel.
Stolpersteine: Lazarettgürtel und Uni Graz
Zu der „alten“ Heimat Graz hat sie bis zuletzt ein distanziertes Verhältnis. So stark haben sich die schrecklichen Erinnerungen an die Novemberpogrome 1938 in ihr Gedächtnis eingebrannt. An Trude Philippsohn-Lang und ihre Familie erinnern heute „Stolpersteine“, die vor dem „Falkenhof“ eingelassen worden sind. Und auch an der Uni Graz, direkt vor dem Eingang des Hauptgebäudes, erinnert seit Oktober 2023 ein Stolperstein an die jüdische Studierende, die 1938 vertrieben worden ist.
Literatur zum Nachlesen:
PHILIPPSOHN-LANG Trude, On my way to adoption. My story, written for Elly. Erinnerungen einer Grazerin im englischen Exil 1939–1942. Herausgegeben von Dieter A. Binder und Gerald Lamprecht. Graz 2020.
HERZOG David, Meine Lebenswege: die persönlichen Aufzeichnungen des Grazer Rabbiners David Herzog. Hrsg. von Heimo Halbrainer, Gerald Lamprecht und Andreas Schweiger. Graz 2013.
Weiterführender Link:
Vertriebene Studierende – Geschichte der Uni Graz