Zunehmende Korruption, fehlende Kontrolle durch eine unabhängige Justiz, Einschränkungen der Meinungsfreiheit: In einigen EU-Ländern, wie Ungarn und Polen, gerät die Rechtsstaatlichkeit zunehmend unter die Räder. Was verändert sich? Und wie reagiert die Europäische Union, um diesen negativen Entwicklungen entgegenzuwirken? Paul Gragl, seit April 2021 Professor für Europarecht an der Universität Graz, beobachtet und kommentiert die Entwicklungen aus juristischer Perspektive.
„Wenn ein Mitglied der Europäischen Union gegen die Grundsätze der Rechtstaatlichkeit verstößt und dadurch den EU-Haushalt schädigt, dann können diesem Land finanzielle Mittel entzogen werden. Die rechtliche Basis dafür ist die sogenannte Konditionalitäts-Verordnung“, erklärt Paul Gragl. Passiert ist das jetzt zum ersten Mal gegenüber Ungarn. Die Kommission hat das Verfahren im September 2022 eingeleitet. Unser Nachbarstaat bekommt nun um 55 Prozent weniger EU-Gelder, verliert damit mehrere Milliarden Euro. „Auch wenn der Anlassfall ein trauriger ist, ist es gut, dass es solche Sanktionsmechanismen gibt und sie funktionieren“, unterstreicht der Jurist, der überzeugt ist, dass das Recht dem Frieden und der europäischen Einigung dienen kann.
Grund- und Menschenrechte
Besonders interessiert ihn der Schutz von Grund- und Menschenrechten. „Europa hat weltweit gesehen das älteste und erfolgreichste System dazu. Drei verschiedene Ebenen spielen hierbei zusammen: nationale und EU-Grundrechte sowie die Europäische Menschenrechtskonvention EMRK“, erläutert Gragl. Hinter Letzterer steht der Europarat mit 46 Mitgliedern. Der mit ihr verbundene Europäische Gerichtshof für Menschenrechte wurde nach dem Zweiten Weltkrieg eingerichtet. Alle EU-Ländern sind EMRK-Mitglieder, die Union selbst soll ihr ebenfalls beitreten. „Die große Herausforderung dabei ist, die Balance zwischen den Zuständigkeiten von EU und EMRK beziehungsweise ihren jeweiligen Gerichtshöfen zu wahren. Sobald der Beitrittsentwurf vorliegt, werden wir diesen kritisch untersuchen und gegebenenfalls Verbesserungsvorschläge erarbeiten“, berichtet Gragl.
Der Jurist, der auch Philosophie studiert hat, versteht es als Auftrag, die Bedeutung von Grund- und Menschenrechten aufzuzeigen: „Vor allem meinen Studierenden möchte ich mitgeben, dass diese ein wertvolles Gut sind, das wir uns nach den Schrecken des Zweiten Weltkriegs erarbeitet haben und nicht leichtfertig aufgeben dürfen, nicht für politisches Kleingeld“, unterstreicht er angesichts negativer Entwicklungen, etwa in der Asyldebatte. „Menschenrechte können nicht nur für bestimmte Gruppen gelten. Sie sind universell. Werden sie aufgeweicht, betrifft das uns alle.“
Mit seiner Professur ist der gebürtige Grazer an seine Alma Mater zurückgekehrt, nachdem er neun Jahre lang an Londoner Universitäten gelehrt und geforscht hatte. „Es war eine spannende Zeit, aber jetzt ist es schön, wieder zuhause zu sein“, freut sich der Jurist, der die Uni Graz zu schätzen weiß: „An unserer großen Fakultät gibt es viele interessante Kooperationen zwischen Europarecht und Völkerrecht ebenso wie mit dem öffentlichen Recht. Auch mit dem Zentrum für Südosteuropastudien haben wir spannende Anknüpfungspunkte.“ Und nicht zuletzt genießt er es – anders als in London –, jeden Tag zur Arbeit zu radeln.