Blinde und Sehende erleben konkrete Wege und Orientierungspunkte auf ganz verschiedene Art und Weise. Sich nach dem Weg zu erkundigen kann sich daher als schwierig herausstellen. Von dieser Beobachtung ausgehend haben der blinde Literaturwissenschafter Piet Devos aus Belgien und Florian Grond, Medienkünstler und Soundartist aus Montreal und Alumnus der Universität Graz, eine ethnographische Methode basierend auf binauralen Audioaufnahmen entwickelt. „Bei dieser Aufnahmetechnik werden zwei Mikrophone in der Nähe der Ohren positioniert. Die Wiedergabe solcher Aufnahmen über Kopfhörer führt zu besonders realistischen Eindrücken der klanglichen Umgebung“, erklärt Florian Grond. Gemeinsames Hören erlaubt es, Aspekte der sonst schwierig zu kommunizierenden Erfahrungswelt von blinden und sehenden Personen für einander mittelbar zu machen – zum Beispiel, wie man sich in Umgebungen zurecht finden kann ohne sich auf die Augen zu verlassen.
Auf Einladung von Nassim Winnie Balestrini, Direktorin des Centers for Intermediality Studies an der Universität Graz, erörterten Piet Devos und Florian Grond das Potential dieser binauralen Aufnahmen in diesem Semester am Institut für Amerikanistik gemeinsam mit Studierenden verschiedenster Studienrichtungen. Ergänzt wurde die Methode durch das Studium von Texten aus den sich gerade etablierenden akademischen Bereichen der „Critical Disability-“ sowie der “Sensory Studies”.
Insbesondere autobiographische Werke blinder AutorInnen, die unter anderem die Komplexität der Navigation und die Begegnungen mit Sehenden im öffentlichen Raum zum Thema hatten, lieferten wertvolle und detaillierte Beschreibungen alternativer, multisensorischer Wahrnehmungsstrategien. Im praktischen Teil des Seminars wurden Aufnahmen der Vortragenden und zum Teil auch jene, die die SeminarteilnehmerInnen gemeinsam mit Studierenden mit Behinderungen aufgenommen hatten, besprochen. Diese bildeten in Folge die Grundlange der Analysen für Seminararbeiten zu den Themenbereichen Behinderung, Wahrnehmung des öffentlichen Raums und Interaktion zwischen Leuten mit und ohne Behinderung.
Ergebnisse dieses Seminars präsentierten die Vortragenden kürzlich im Grazer Kunstverein. Die Veranstaltung „Ethnography, Dance, and Media of Embodiments“ war eine interdisziplinäre Zusammenarbeit mit der Choreographin und Tänzerin Anne Juren, die bei der Entwicklung ihrer Performances mit blinden Menschen zusammenarbeitet. Die Kombination von Anne Jurens Tanzaufführung mit einer theorieorientierten Präsentation binauraler Aufnahmen bot die Gelegenheit zur kritischen Auseinandersetzung mit Kunst- und Medienpraxen in Bezug auf Erfahrungswelten, die den Sehsinn nicht einschließen. „Das sehende Publikum hatte so Zugang zu einem für ihren Alltag untypischen Wahrnehmungsmodus. Die künstlerischen und theoretischen Präsentationen vermittelten das schöpferische Potential blinder Weltwahrnehmung, gerade eben durch die Konzentration auf jene Sinne, die sonst weniger im Mittelpunkt stehen“, resümiert Florian Grond.