Wie erleben Sie die aktuelle Stimmung?
Franz Winter: Wie auch in anderen Bereichen der amerikanischen Gesellschaft scheint auf den Universitäten die anfängliche Schockstarre einem Widerstandswillen zu weichen. Man beginnt sich zu organisieren und es gibt zahlreiche Demonstrationen, die das aktuelle Vorgehen der Regierung insgesamt problematisieren. Von Seiten der Universitäten gab es anfänglich eher ein Einlenken und ein Nachgeben, als die Budgetkürzungen im Raum standen. So haben sowohl die Columbia University als auch Harvard in einer ersten Reaktion auf die ersten Forderungen den Eindruck vermittelt, diesen Folge leisten zu wollen.
Haben Sie dafür eine Erklärung?
Winter: Das hat nicht zuletzt auch damit zu tun, dass die Regierung sehr geschickt ein äußerst kontroverses Thema in den Mittelpunkt ihrer Kritik stellte. Denn zum Teil gab es als Folge des 7. Oktober 2023 in der Tat ein Antisemitismus-Problem im Zuge allzu vieler Palästinademonstrationen und -aktivismen. Deshalb räumen auch in den jüngeren Stellungnahmen die Universitätsleitungen durchgehend ein, dass hier massive Fehler gemacht wurden. All dies kann aber nicht die umfassenden Budgetkürzungen und die ebenfalls propagierten Disziplinierungsmaßnahmen legitimieren, die letztendlich die akademische Freiheit generell einschränken würden. Ich würde also von einem langsamen Aufwachen der Zivilgesellschaft sprechen. Dabei kommt den Universitäten und darunter wiederum Harvard eine ganz zentrale Rolle zu.
Warum hat Harvard im Protest gegen Trump diese führende Rolle eingenommen?
Winter: Aufgrund ihrer hohen Stellung in der allgemeinen Wahrnehmung, dem weitreichenden Renommee und der finanziellen Ausstattung ist Harvard geradezu prädestiniert dafür. Dass man umgekehrt von Seiten der Regierung Harvard ins Zentrum der Aufmerksamkeit rückt, ist ebenfalls nachvollziehbar. Die Botschaft lautet: Wenn Regulationen in Harvard möglich sind, um wie vieles leichter sind sie dann an allen anderen Universitätsstandorten, denen im Schnitt wesentlich weniger Mittel zur Verfügung stehen.
Ist der Widerstand tatsächlich spürbar, wie uns hier in den Nachrichten vermittelt wird?
Winter: Es gibt deutlich mehr Demonstrationen, insbesondere in den großen Städten. Die unterschiedlichen Player vernetzen sich stärker. Das betrifft auch immer wieder die Universitäten, wo auf dem Campusgelände Versammlungen stattfinden, allerdings weniger ausgeprägt, als dies die mediale Berichterstattung vermuten lässt. Das universitäre Leben selbst ist meiner Wahrnehmung nach nicht sehr stark von den politischen Entwicklungen betroffen; von außen betrachtet geht alles seine gewohnten Wege und alle Ressourcen stehen uneingeschränkt zur Verfügung.
Kommt die angespannte Lage überhaupt bei den Studierenden an?
Winter: Irritation und Besorgnis sind in den direkten Gesprächen spürbar. Zum einen unter den US-amerikanischen Studierenden selbst, von denen viele die aktuelle Entwicklung auch nicht nachvollziehen können bzw. dafür keine Erklärung haben. Zum anderen aber bei den vielen ausländischen Studierenden: Es gab bereits einige spektakuläre Fälle, in denen Visa widerrufen oder sogar Verhaftungen von der Straße weg vorgenommen wurden. Diese standen allesamt im Zusammenhang mit einschlägigen Palästina-Aktivismen der Betroffenen, allerdings kann das schnell ausgeweitet werden. Wir dürfen nicht vergessen, dass einige Ausgewiesene eine dauerhafte Aufenthaltsgenehmigung hatten.
Wie schätzen Sie die Aussichten und die nächste Zeit ein? Wie könnte sich der Konflikt lösen lassen?
Winter: Es ist meines Erachtens nicht möglich, Aussagen über die weitere Entwicklung zu treffen. Es ist alles völlig ungewiss, da es in jüngerer Zeit nichts Vergleichbares gab. Allen aktuellen Berichten zufolge könnten die Widerstandsmaßnahmen seitens der Harvard Universität eine Reihe von gerichtlichen Verfahren nach sich ziehen, die möglicherweise erst in Jahren entschieden werden. Die Regierung fährt auf vielen Ebenen eine maximal konfrontative Linie und an ein Einlenken scheint niemand zu denken. Vieles hat auch mit der Tatsache zu tun, dass dem US-amerikanischen Präsidenten und seinem Apparat offensichtlich ein Durchgriffsrecht zugestanden wird, dass in anderen politischen Systemen in dieser Form nicht möglich wäre.
Im größeren historischen Verlauf ist die Erinnerung an die McCarthy-Zeit präsent. In ähnlicher Weise war wie heute im Zusammenhang mit Antisemitismus in den 1950er-Jahren der angeblich übermäßig präsente Kommunismus Anlass für eine massive, staatlich organisierte und unterstützte Regulierungsagenda, die gerade auch Universitäten betroffen hat. Harvard stand dabei als angeblicher „Kreml am Charles", gemeint ist hier der Fluss, der Cambridge von Boston trennt, im Zentrum der Überwachungsaktivitäten. Der damalige Präsident der Universität, Nathan Pusey, wehrte das Ansinnen der Regulierungsbehörde, darunter etwa der Wunsch nach Entlassung „roter“ Professoren, erfolgreich ab und scheint dem aktuellen Präsidenten ein Vorbild zu sein. Die Geschichte gab ihm insofern recht, als die McCarthy-Zeit heute als zwar intensive, aber glücklicherweise eher kurze Phase einer völlig aus den Fugen geratenen Fehlentwicklung gilt. Im Nachhinein war sie zwar eine durchaus massive Irritation, konnte aber den generellen Verlauf der weiteren gesellschaftlichen Entwicklung nicht grundlegend verändern. Es bleibt zu hoffen, dass dies auch für die aktuelle Phase gilt.