Krieg in der Ukraine und in Israel. Politiker:innen, die mit antidemokratischen Parolen immer mehr Stimmen gewinnen. Was bedeutet das für die Menschenrechte?
Die Zeiten sind aktuell für die Menschenrechte so schlecht, wie sie wahrscheinlich noch nie waren. Es gibt einen intensiven Backlash bei Menschenrechten, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit in zahlreichen Ländern. Er stellt vieles in Frage, was bisher so einigermaßen Konsens war. Was seit der Erklärung der Menschenrechte 1948 aufgebaut wurde, wird immer weniger wertgeschätzt. Wir befinden uns in einem Rückzugsgefecht, in dem wir den status quo bewahren müssen. An einen weiteren Ausbau, wie etwa die Verwirklichung der Idee eines Weltgerichtshofs für Menschenrechte, ist derzeit nicht zu denken.
Es gibt ja auf internationaler Ebene einige Einrichtungen, die gegründet wurden, um die Menschenrechte zu schützen. Warum funktionieren die nicht?
Grundsätzlich gilt es immer einen Ausgleich zu finden zwischen einerseits staatlicher Souveränität und dem Prinzip, sich nicht in die Angelegenheit anderer Länder einzumischen, und andererseits der Verständigung darauf, dass Menschenrechte Gemeinschaftsgut sein sollten. Letzteres stellen einige zentrale Akteure aber zunehmend in Frage. Sie sind nicht mehr bereit, sich in multilateralen menschenrechtlichen Verfahren konstruktiv einzubringen. Russland ist nicht mehr Mitglied im Europarat. Als es das noch war, hat es mit rechtlichen Argumenten versucht, die Rolle des nationalen Verfassungsgerichts über den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte zu stellen. Und diese Idee hat auch in anderen Staaten Anklang gefunden. Russland und China möchten ganz bewusst eine neue Weltordnung bauen, in der universelle Menschenrechtsstandards keine Rolle mehr spielen. Sie werden als westliches Konstrukt in Frage gestellt, dem man jetzt etwas anderes entgegenstellen muss.
Sehen Sie dieses ausschließliche Beharren auf der nationalen Souveränität als eine Reaktion auf verunsichernde Veränderungen wie etwa den Klimawandel oder Migration?
Wir leben natürlich schon in ganz anderen Zeiten als jenen, in denen das System der Menschenrechte konzipiert wurde. Die von Ihnen genannten Dinge treiben die Menschen sehr stark um. Hinzu kommen technologische Entwicklungen und die Frage des posthumanen Zeitalters, das sie einläuten. Aber auch in digitalen Räumen, in denen künstliche Intelligenz agiert, behalten die Menschenrechte ihre Bedeutung. Sie müssen jedoch neu kalibriert und mit dem technologischen Fortschritt in Einklang gebracht werden.
Man kann diese Entwicklungen aber auch gut als Vorwand nehmen, um Menschenrechte einzuschränken, für politischen Machterhalt und das Nicht-Zulassen von offenen Gesellschaften. Und das passiert offensichtlich.
Was ist notwendig, damit Demokratie und Rechtsstaatlichkeit nicht untergehen?
Wir müssen die Menschenrechte als globalen Wert verteidigen und sie – um dabei auch glaubwürdig zu sein – konsequent selbst leben, überall, auch an den EU-Außengrenzen. Menschenrechte sind in der Konzeption eine Staatsaufgabe. Dort allerdings, wo der Staat versagt, bleibt nichts anderes, als dass eine hoffentlich funktionierende Zivilgesellschaft diese Rolle übernimmt. Aktivist:innen, die die universellen Standards verteidigen, sind daher von großer Bedeutung. Es macht Mut, dass es so viele gibt.
Aber ist es nicht auch die Zivilgesellschaft, die autoritäre Politiker:innen mit ihren Stimmen – zumindest anfänglich – zur Macht verhilft?
Das ist richtig, aber gerade da können die Menschenrechte, wenn sie global akzeptiert sind, als Korrektiv wirken, als ein System von gewissen Mindeststandards, die nicht zu unterschreiten sind. Sodass die Mehrheit nicht unbedingt das Recht hat.
Was kann die Uni Graz dazu beitragen, die Menschenrechte als universelle Werte zu bewahren?
Wir müssen die Menschenrechtsbildung weiter vorantreiben. Das heißt, ein Grundverständnis dafür zu schaffen, was Menschenrechte sind und warum sie für uns alle Bedeutung haben. Dabei geht es nicht nur um die Vermittlung von Wissen, sondern auch einer Haltung zur Demokratie, zum Rechtsstaat, zum Unrecht. Das ist eine genuine Aufgabe von Universitäten.
Wie bringen Sie und Ihr Team sich als Forschungspartner des Grazer UNESCO-Zentrums ein?
Mit dem UNESCO-Zentrum wollen wir die Verwirklichung der Menschenrechte in Regionen und Gemeinden fördern. Dabei geht es sehr oft um soziale, wirtschaftliche und kulturelle Rechte, um Fragen der gesellschaftlichen Teilhabe. Die Tatsache, dass ich ein Theater nicht besuchen kann, weil es keine Rollstuhl-Rampe gibt, ist ein grundlegendes menschenrechtliches Diskriminierungsproblem.
Oder Wohnraum – mittlerweile für alle Städte ein großes Thema. Aus menschenrechtlicher Sicht stellt sich die Frage, ob es nicht bestimmte Mindestansprüche gibt, die für alle Menschen zu verwirklichen sind. Aus marktwirtschaftlicher Perspektive hingegen ist angemessener Wohnraum einfach etwas, das man sich leisten kann oder nicht.
Wir wollen Städte und Gemeinden zu einer Kultur der Menschenrechte hinführen, aber nicht mit erhobenem Zeigefinger eine Ideologie verkaufen. Uns ist es wichtig, forschungsbasiert aufzuzeigen, warum es für die Kommunen Sinn macht, zum Beispiel für Gleichstellung, leistbaren Wohnraum und soziale Sicherheit zu sorgen. Wir beraten und geben konkrete Handlungsanleitungen, wer in der Verwaltung in welcher Art und Weise für die Umsetzung verantwortlich ist, welche Maßnahmen zielführend sind, welches Budget dafür notwendig ist. Unter diesem Gesichtspunkt unterstützen wir unter anderem die Afrikanische Verwaltungsakademie bei der Erstellung von Lehrplänen für die Ausbildung von Gemeindebediensteten. Wir hatten auch schon Kooperationen mit arabischen Städten, die daran interessiert waren zu verstehen, wie Sozialsysteme funktionieren.
Am 22. März 2024 verleiht die Uni Graz ihren Menschenrechtspreis an die International Accountability Platform for Belarus (IAPB). Sie haben die IAPB für die Auszeichnung vorgeschlagen. Warum?
Diese internationale Plattform ist ein Zusammenschluss von NGOs, Jurist:innen und Personen aus der Zivilgesellschaft in Belarus und anderen Ländern, die seit Jahren Menschenrechtsverletzungen in Belarus dokumentieren. In der Hoffnung, dass man nach einem Regimewechsel die Verantwortlichen zur Rechenschaft ziehen wird. Denn nur dann kann eine Zivilgesellschaft entstehen, der es möglich ist, einen Schlussstrich unter das erlittene Unrecht zu ziehen, weil sie Gerechtigkeit erfahren hat.
Die Plattform verdient den Preis aus mehreren Gründen. Zum einen arbeiten die Leute mit hohem persönlichen Einsatz und unter großer Gefahr, vor allem jene in Belarus. Zum anderen ist sie ein Vorzeigebeispiel für internationale Solidarität und Kooperation, die notwendig sind, damit so etwas funktioniert. An der Spitze steht eine sehr etablierte dänische NGO, die sich seit Jahrzehnten gegen die Folter engagiert.
Darüber hinaus geschieht die Dokumentation sehr professionell, sowohl durch den Einsatz moderner Technologien, etwa zur Auswertung von Satellitenbildern, als auch durch eine wissenschaftliche Aufarbeitung. Die IAPB ist Vorbild für ein Modell, das zukünftig auch anderswo, etwa für die Ukraine, funktionieren könnte. Hinzu kommt, dass die Uni Graz Partneruniversitäten in Belarus sowie in der Ukraine hat und somit eine besondere Nähe zu diesen Ländern.