Auch 70 Jahre nach der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte stehen Verletzungen dieser fundamentalen gesellschaftlichen Normen. Ein Blick in die Ferne ist hierbei unnötig. Eine etwa zehnstündige Autofahrt von Graz führt an die Grenze zu Belarus, wo politische Gefangenschaft und Folter den Alltag prägen. Zur Dokumentation dieser Verbrechen und zur späteren Anklage der Täter gründete man die International Accountability Platform for Belarus (IAPB). Seit ihrer Gründung im Jahr 2021 dokumentierte diese rund 2500 Berichte von Opfern und Zeugen und identifizierte zahlreiche Täter.
Für diese herausragende Leistung verleiht die Universität Graz der Organisation am 22. März 2024 den Menschenrechtspreis und setzt damit ein starkes Zeichen für ein freies und demokratisches Europa. „Für eine Universität ist die Freiheit von Lehre und Forschung das höchste Gut. Untrennbar damit verbunden sind Werte wie die Freiheit von unrechtmäßiger Verfolgung, die Freiheit der Meinungsäußerung und die Freiheit, sein Leben nach eigenen Vorstellungen zu gestalten“, sagt Peter Riedler, Rektor der Universität Graz. „Die Auszeichnung der IAPB ist Ausdruck dieses Engagements, sie unterstreicht die Bedeutung der Menschenrechte für unsere Universität.“
Gleich mehrere Menschenrechts-NGO bündeln ihre Aktivitäten über die Plattform. Zur Zeremonie und zum anschließenden Symposion reisten daher Vertreter unterschiedlichster Organisationen an, darunter DIGNITY - Danish Institute Against Tortoure, Human Rights Center Viasna, Belarus, International Committee for the Investigation of Torture, Belarus, European Committee for the Prevention of Torture, Bellingcat, Truth Hounds, Human Rights Watch und der OSZE.
Wolfgang Benedek, dessen Empfehlungen als OSZE-Berichterstatter für die Wahlen und Menschenrechtsverletzungen im Jahr 2020 zur Gründung des IAPB beitrugen, erinnerte in seiner Laudatio an zahlreiche Meldungen von den Gräueltaten im Zuge der Niederschlagung der großen und friedlichen Demonstrationen gegen die offensichtliche Wahlmanipulation. Eine strafrechtliche Verfolgung dieser Vorfälle schien damals undenkbar. Die Dokumentation der IAPB wird dies in Zukunft ermöglichen.
„Leider verschlechtert sich die Menschenrechtssituation in Belarus laufend weiter“, beklagt Benedek. „Doch es ist wichtig, nicht aufzugeben und die Dokumentation der schwerwiegenden Menschenrechtsverletzungen des Regimes von Lukaschenko fortzusetzen. Die International Accountability Platform for Belarus hat einen Standard gesetzt, wie diese Aufgabe erfüllt werden kann und ihre Arbeit muss daher, solange als notwendig fortgeführt werden.“ Die Auszeichnung mit dem Menschenrechtspreis durch die Universität Graz soll als Motivation dienen.
„Der Preis ist auch eine wichtige Anerkennung der einzigartigen und innovativen Eigenschaften der IAPB, das gegründet wurde, um Menschenrechtsverletzungen zu dokumentieren und die Täter verantwortlich machen zu können“, sagt Rasmus Grue Christensen, Leiter der NGO DIGNITY, welche die IAPB anführt „Derzeit befinden sich rund 1500 politische Gefangene im Gefängnis“, schildert der Aktivist die Situation in Belarus. „Diejenigen, die aus der Haft entlassen wurden, berichten nach wie vor, dass sie im Gefängnis gefoltert wurden und anderen Formen der Misshandlung ausgesetzt waren. Belarussen, die aus dem Land fliehen, riskieren die Enteignung ihres zurückgelassenen Eigentums und den Verlust ihrer Staatsbürgerschaft.“
Victoria Federova vom International Committee for the Investigation of Torture, Belarus, betonte in ihrer Dankesrede die hohe Qualität der Dokumentation, die durch die Plattform nun möglich ist. "Viele meiner Kollegen sind politische Gefangene und müssen im Gefängnis Misshandlungen über sich ergehen lassen", sagt Federova. "Und derzeit gibt es keine Instanz, welche die Täter:innen zur Rechenschaft zieht. Deshalb ist die Dokumentation dieser Verbrechen so wichtig. Der Preis bestärkt uns darin, diese Arbeit fortzusetzen."
Paulina K. (Nachname wird aus Sicherheitsgründen nicht genannt) nahm den Preis im Namen der Belarussischen NGO Viasna an, deren Gründer, Friedensnobelpreisträger Ales Bialatski, zu zehn Jahren Haft verurteilt wurde. "In den Gefängnissen herrschen schreckliche Bedingungen. Es kommt zu Misshandlungen, es gibt keine medizinische Versorgung, keine Hygiene, Schlafentzug und eine Kontaktsperre nach außen", schildert die Menschenrechtsaktivistin die Situation in Belarus. "Wir wissen von 1411 Menschen, die unter diesen Bedingungen eingesperrt sind." Und auch jene, die wie sie fliehen konnten, leiden unter Repressionen. Denn das Regime geht gegen die Angehörigen der Aktivist:innen vor. "Für mich ist dieser Preis auch wichtig, weil er die Aufmerksamkeit wieder auf die Lage in Belarus lenkt."
Für Rektor Peter Riedler ist die Ehrung der IAPB auch eine Verpflichtung für die Universität und ihre Angehörigen, die Grundsätze der Menschenrechte, der strafrechtlichen Rechenschaftspflicht und des Strebens nach Gerechtigkeit hochzuhalten. „Die Arbeit der IAPB ist eine eindrucksvolle Erinnerung daran, was engagierte Einzelpersonen und Organisationen angesichts scheinbar unüberwindlicher Herausforderungen bewirken können.“ Sie können als Inspiration dienen, um über Disziplinen, Grenzen und Kulturen hinweg, an einer Welt zu arbeiten, in der die Menschenrechte für alle geachtet, geschützt und erfüllt werden.
Interview mit Rasmus Grue Christensen: Holding Lukashenko Accountable