Man kann das Alte Testament als den Inbegriff von überholten Machtstrukturen lesen. Befehlsgewalt von Männern, strenge Hierarchien, Dominanz der Institutionen – all das zeigt uns die antike Traditionsliteratur zweifellos. Aber wer genauer hinsieht, entdeckt auch andere Seiten der Heiligen Schrift. „Es gibt Passagen, die für eine Verteilung von Herrschaft und Verantwortung plädieren. Sie stellen die Frage, was gute Leadership eigentlich ist“, umreißt Katharina Pyschny eines ihrer zentralen Forschungsthemen. Sie ist seit Oktober 2022 Professorin am Institut für Alttestamentliche Bibelwissenschaft der Uni Graz.
Anleitung zum Delegieren
Wer den Handlungsspielraum auf sich alleine konzentriert, keine Aufgaben abgeben kann und anderen nichts zutraut, läuft nicht nur selbst Gefahr, in ein Burn-out zu schlittern. Er oder sie riskiert auch Unzufriedenheit unter jenen, die er oder sie führen soll. Dieses Thema wird zum Beispiel im Buch Exodus angesprochen, erklärt Pyschny. In Ex18,18 führt Jitro seinem Schwiegersohn Moses – der als Richter sichtlich überfordert ist – vor Augen, was passiert, wenn dieser nicht lernt, loszulassen: „So richtest du dich selbst zugrunde und auch das Volk, das bei dir ist.“ In Ex18,22 wird Jitro noch konkreter: „Entlaste dich und lass auch andere Verantwortung tragen!“
Moses folgt dem Rat seines Schwiegervaters und ernennt Männer aus dem Volk, mit denen er sich künftig die richterlichen Aufgaben teilt. Katharina Pyschny unterstreicht auch die wichtige Rolle Jitros in einem Prozess, den wir heute als Mentoring bezeichnen würden. „Wie und warum Führungsansprüche im Alten Testament verhandelt bzw. als rechtens anerkannt werden, lässt sich auch an alttestamentlichen Figurinen von Prophet:innen oder Stammesältesten ablesen“, erzählt die Forscherin.
Der Mensch ist Körper, Geist und Seele
Ein zweiter Schwerpunkt der Bibelwissenschaftlerin, die von der Humboldt-Universität zu Berlin nach Graz gekommen ist, ist die Frage, wie Menschsein im Alten Testament dargestellt wird. Dieses Bild ist erstaunlich anschlussfähig an heutige Perspektiven, erklärt sie: „Der Mensch wird ganzheitlich, also als Einheit, gedacht. Wir sehen dieses Konzept sehr gut in der hebräischen Sprache. Es gibt darin Begriffe, die zugleich ein Körperorgan und die damit assoziierten Gefühle beschreiben“, erklärt Pyschny.
So bedeutet ʾaf gleichzeitig „Nase“ und „Zorn“, næfæš meint den Halsbereich, aber auch Vitalität, Lebenskraft oder Personalität. Und lēb, das Herz, hat im hebräischen Denken nicht unbedingt etwas mit Liebe oder Romantik zu tun, sondern ist das Entscheidungsorgan schlechthin. So lassen sich physische, kognitive und emotionale Aspekte nicht voneinander trennen. Das ist für die Forscherin auch die Brücke zum Heute: „Wir haben in der Covid-19-Pandemie erfahren, dass der Mensch nur in Verbindung mit anderen gut lebt und dass physischer Abstand nicht zur sozialen Isolation führen darf.“