„Es ist die Transformationsästhetik der slawischen Moderne, die sich seit den Anfängen der Sowjetunion nach der Oktoberrevolution 1917 in Stadtplanung, Architektur und Landschaftsdesign widerspiegelt“, sagt Tatjana Petzer. Wie unter dieser Perspektive die Umgebung gestaltet wurde – sowohl in Entwürfen auf dem Papier als auch in der konkreten Umsetzung – erforscht sie als Mitglied des internationalen interdisziplinären Netzwerks „Russian Ecospheres“.
Der Mensch als geologische Kraft
Maßgeblich beeinflusst wurde die Transformationsästhetik vom ukrainisch-russischen Biogeochemiker Wladimir Wernadski (1863-1945). Petzer erklärt sein Denken: „Die Geosphäre brachte eine Sphäre der lebenden Materie hervor: die Biosphäre. Der Mensch, als Teil davon, hat unseren Planeten auf wissenschaftlich-technischer Grundlage derart umgestaltet, dass sich daraus gewissermaßen eine neue Erdummantelung entwickelt hat. Wernadski nannte sie Noosphäre, in Anlehnung an das griechische Wort für Geist Verstand. Dieses Gedankengut hat nicht nur die sowjetischen Naturwissenschaften geprägt, sondern auch Philosophie, Kunst und Literatur.“ Die geologisch-gestalterische Kraft des Menschen berge einerseits viel Potenzial, andererseits aber auch Gefahren. „Daher plädierte Wernadski für ein planetarisches Bewusstsein. Heute würde man vom globalen Denken sprechen“, ergänzt Petzer.
Zukunft mit Vergangenheit
Auch in der postkommunistischen, postindustriellen Gesellschaft ist die Vorstellung, dass sich der Mensch selbst durch neue Umgebungen in Zusammenarbeit mit der Natur umgestalten kann, für ökologisches Architektur- und Landschaftsdesign wegweisend. In einem Forschungsprojekt untersucht Petzer die transformationsästhetischen Strategien, die diese Vision verwirklichen sollen. Die Kulturwissenschaftlerin stellt dabei fest, dass sich das biosphärische Denken von Wladimir Wernadski auch in aktuellen Vorhaben wiederfinden lässt. „In der Ukraine haben sich bereits Think Tanks gebildet, die den Wiederaufbau nach dem russischen Angriffskrieg und der damit verbundenen Umweltzerstörung ökologisch visionieren. Sie nehmen dabei Entwürfe der Moderne auf, die meist nicht umgesetzt wurden. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts entstanden, haben sie eine grüne Stadt vor Augen und versuchen sehr behutsam, mit sphärischen, fliegenden Architekturen die Erdoberfläche möglichst wenig zu verändern“, berichtet Petzer. Während sich in der frühen Sowjetunion die Entwürfe zur Nutzung von Sonnenenergie noch utopisch ausnahmen und nicht weiterentwickelt wurden, werde heute selbstverständlich mit nachhaltigen Energietechnologien geplant. Damit treffe man sich mit den ökologischen Zielen der EU.
Kreativität und Kultur
Bevor Tatjana Petzer in die Steiermark kam, war sie am Leibniz-Zentrum für Literatur- und Kulturforschung in Berlin sowie als Vertretungsprofessorin für slawistische Kulturwissenschaften an der Martin-Luther-Universität Halle Wittenberg tätig. An der Uni Graz, wo sie mit ihrer Forschung in den Profilbereich „Dimensionen Europas“ integriert ist, schätzt sie die kreative Zusammenarbeit mit Kolleg:innen aus unterschiedlichen Fachbereichen. Ebenso wie die enge Vernetzung mit Kulturinstitutionen vor Ort.
Ukraine interaktiv
Ein besonderes Anliegen ist Petzer, die ukrainische Sprache und Kultur am Institut für Slawistik der Uni Graz zu verankern. „Es ist mir wichtig, ostslawistische Studien nicht fokussiert auf Russisch zu betreiben, sondern im transregionalen Kontext des Belarussischen und des Ukrainischen. Auch um Studierende aus diesen Ländern an der Universität zu integrieren.“ Einen Anfang machen Petzer und ihr Team mit dem Winterkolleg “Ukraine interaktiv”, das von 26. Februar bis 1. März 2024 zum ersten Mal an der Uni Graz stattfindet. Die Veranstaltung möchte Menschen aus Österreich und der Ukraine zusammenbringen und das gegenseitige Verständnis für Sprache, Kultur und Gesellschaft fördern. Das Programm mit Sprachkursen, Kulturvermittlung, Vorträgen und Diskussionen zu aktuellen Themen richtet sich an Studierende, Wissenschaftler:innen und Interessierte aus allen Bereichen.
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