Sich in einem fremden Land zurechtfinden, ist schwierig. Für gehörlose Menschen ist ein Umzug eine doppelte Herausforderung, weil sie eine neue Gebärden- und eventuell auch eine neue Schriftsprache lernen müssen. Wie gehen sie damit um? Welche kommunikativen Strategien und Mittel nützen sie, um sich verständlich zu machen? Und wer tut sich warum leichter, wer schwerer? Mit diesen Fragen beschäftigt sich Julia Gspandl, Forscherin am Zentrum für Sprache, Plurilingualismus und Fachdidaktik der Uni Graz (treffpunkt sprachen), in ihrer Dissertation. Dafür erhielt die Linguistin gestern, am 22. Juni 2023, einen mit 5000 Euro dotierten Preis des Theodor Körner-Fonds zur Förderung von Wissenschaft und Kunst.
Was ist die Gebärde für „Polsterer“?
Zur Situation gehörloser Migrant:innen in Österreich gibt es keine Statistiken und kaum Daten. „Es ist eine Minderheit innerhalb einer Minderheit, für die es wenig Angebote von öffentlicher Seite gibt“, erzählt Julia Gspandl. Behördenwege, Termine bei Ärzt:innen, Jobsuche, Gespräche mit Schulen oder Kinderbetreuungseinrichtungen – all das meistern Gehörlose oft nur mit der Unterstützung von Bekannten vor Ort. „Die Community ist gut vernetzt. Häufig ist die Entscheidung für ein bestimmtes Zielland davon abhängig, wo man schon jemanden kennt“, schildert Gspandl. Sie hat zwölf gehörlose Migrant:innen interviewt, die aus dem gesamten europäischen Raum sowie Südasien nach Österreich gezogen sind.
In den Gesprächen wurde dennoch deutlich, dass diese Gruppe selbst ein großes kommunikatives Potenzial mitbringt. Wie erklärt man zum Beispiel, dass man Polsterer von Beruf ist? „Seltene Begriffe wie dieser sind schwer zu vermitteln, weil sich Gebärdensprachen von Land zu Land unterscheiden, und auch innerhalb eines Staates verschiedenartig sein können, genauso wie Dialekte in gesprochenen Sprachen“, weiß Gspandl. In dem konkreten Beispiel wandte ein Native Signer, der Polsterer von Beruf ist, mehrere Strategien an, führt die Forscherin aus: „Er zeigte die Wiener Gebärde für ‚Polster‘, erklärte den Kontext seines Berufes, nutzte Bildhaftigkeit und deutete auf einen Stuhl. Am Ende war klar, welchen Job er hat.“
Hartnäckig sein lohnt sich
Das Beispiel zeigt, dass die meisten Gehörlosen gewohnt sind, nicht gleich verstanden zu werden oder zu verstehen – und gerade deshalb in der Kommunikation hartnäckig und geschickt sind. „Sie geben weniger schnell auf und kennen viele verschiedene Strategien, um Sprachbarrieren zu überwinden. Wenn man einander schließlich versteht, ist das Erfolgserlebnis besonders schön“, erzählt Gspandl von ihren Interviews. Durchgeführt wurden diese von der Native Signerin Claudia Dobner, bei der Analyse unterstützten zusätzlich Christian Stalzer und Fabian Dominikus.
Besonders betonen möchte die junge Forscherin, die ihre Dissertation im Lauf des Jahres abschließen will, zwei Punkte: Erstens sollten gehörlose Kinder viel Kontakt untereinander ermöglicht werden. „Natürlich ist es wichtig, dass sie auch hörende Freunde im gleichen Alter haben. Aber für das Erlernen der Gebärdensprache und ihre Sprachentwicklung generell ist es essenziell, dass sich Gehörlose von Beginn an gut austauschen können. Das hilft später auch beim Erwerb einer neuen Gebärdensprache, wie unsere Daten zeigen.“
Und zweitens: „Gehörlose Migrant:innen sind keine bemitleidenswerte Randgruppe. Ihre Gehörlosigkeit birgt großes Potenzial – in der Kommunikation, oft aber auch in Sachen Lebenserfahrung und Einfühlungsvermögen. Das heißt umgekehrt aber nicht, dass wir von ihnen erwarten dürfen, dass sie in der Kommunikation die ganze Arbeit übernehmen, nur weil sie sprachlich schwierige Lagen oft einfallsreich und kreativ lösen“, fasst die Wissenschaftlerin zusammen.
TIPP: Wer die Österreichische Gebärdensprache ÖGS studieren möchte, kann das an der Uni Graz tun. Als einzige Universität Österreichs bietet sie ÖGS als Zielsprache im Studium Transkulturelle Kommunikation an.
Der Theodor Körner Förderfonds
Der Theodor Körner Förderungsfonds für Wissenschaft und Kunst unterstützt seit 70 Jahren junge Wissenschaftler:innen und Künstler:innen Österreichs, die hervorragende Leistungen erbringen bzw. von denen wichtige Beiträge für ihre jeweiligen Fachdisziplinen erwartet werden. Die Auszeichnung ist mit einem Preisgeld verbunden, das die Durchführung und Fertigstellung wissenschaftlicher bzw. künstlerischer Arbeiten erleichtern soll. Die eingereichten Projekte beurteilt ein Beirat, der sich aus Expert:innen aus Wissenschaft und Kunst zusammensetzt.